Usability und Systems Engineering in Einklang bringen

Systems Engineering beschäftigt sich mit der Entwicklung eines qualitativ hochwertigen Gesamtproduktes. Usability Engineering dagegen zielt darauf ab, dem Nutzer ein effizientes und effektives Abarbeiten seiner Aufgaben zu ermöglichen. Trotz und wegen ihrer unterschiedlichen Ausrichtung sollen beide Prinzipien im Entwicklungsprozess eines neuen Produktes ihren Platz finden. Dieser Artikel wird beide Disziplinen näher beleuchten und die wichtigsten Schritte im jeweiligen Entwicklungsprozess erläutern. So können wir letztlich besser verstehen was wie ineinandergreifen kann und zu welchem Zeitpunkt stattfinden sollte.

Mit Systems Engineering zum fertigen Produkt

Zielsetzung des Systems Engineering

Systems Engineering verfolgt das Ziel mit möglichst viel Effizienz und Effektivität ein qualitativ hochwertiges Produkt zu entwickeln, welches auf den Nutzer und die Kundenbedürfnisse abgestimmt ist. Dazu werden möglichst früh im Entwicklungsprozess den ganzen Lebenszyklus des Produktes betreffende Anforderungen (z.B. wirtschaftlich und technisch) definiert und dokumentiert. Diese münden in einen System-Entwurf mit Subsystemen. Am Ende des Prozesses steht eine Systemvalidierung. Die IEC 60601-1 schlägt für das Vorgehen das V-Modell vor.

Die Entwicklung eines (Medizin-)Produktes läuft in mehreren aufeinanderfolgenden Phasen ab. Die IEC 60601-1 schlägt in Annex H für das Vorgehen im Entwicklungsprozess ein Modell für den PEMS-Entwicklungszyklus vor. Das Besondere an diesem Modell ist, dass bereits während der planerischen und konstruktiven Phase jeweilige Tests spezifiziert werden. Der absteigende Ast des V-Modells wird zuerst abgearbeitet (von oben nach unten). Er beschäftigt sich mit der sukzessiven Zerlegung der Anforderungen und der Risikoanalyse. Er beinhaltet die Erfassung der PEMS-Anforderungen woraus sich die PEMS-Architektur ableitet. Darauf folgt die Entwicklung der Subsysteme, die Entwicklung der Komponenten und danach die Integration. Der aufsteigende Ast des V-Modells wird von unten nach oben abgearbeitet. Er beinhaltet PEMS Integration, Verifikation und Risikobeherrschung.

Genauer betrachtet steht zu Beginn die Definition der Stakeholder Anforderungen. Hier werden durch Requirement Engineers Anforderungen definiert und aufgelistet, die umgesetzt werden müssen, um verschiedene Interessensgruppen zufriedenzustellen. Zu diesen Interessengruppen zählen unter anderem der Gesetzgeber, der Kaufentscheider, der Betreiber, sowie der Benutzer des Geräts. Eine vollständige Auflistung der Stakeholder-Anforderungen enthält Anforderungen aus den Teilbereichen Nutzungs-, Markt-, fachliche, organisatorische, gesetzliche und Investorenanforderungen.

Aus den Stakeholder Anforderungen wird im nächsten Schritt durch Usability Engineers die PEMS-Spezifikation mit einer Definition der Schnittstellen zw. den Subsystemen abgeleitet.

Anschließend übernehmen die eigentlichen Entwickler dann diese System-Spezifikation, um daraus System-Anforderungen zu definieren, um ein zufriedenstellendes Produkt zu entwickeln.

Daraufhin werden die Subsysteme definiert und spezifiziert. Es werden Anforderungen an einzelne Komponenten aufgestellt.

Die Spitze des V bildet die Implementierung und Umsetzung. In der Integrationsphase werden die einzelnen Komponenten und Systeme nacheinander getestet und validiert, sowie die Risikobeherrschung verifiziert.

Das Usability Engineering

Zielsetzung des Usability Engineering:

Mit dem Anwenden von Usability-Prinzipien soll mit dem Produkt das Erfüllen von Aufgaben mit Effektivität, Effizienz, Zufriedenheit und Sicherheit erreicht werden. Der Fokus liegt hier auf der Durchführung von Aufgaben und Teilaufgaben und der Interaktion des Nutzers mit dem User-Interface. Wichtige Interaktionsprinzipien laut der ISO 9241-110 sind Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Erwartungskonformität, Erlernbarkeit, Steuerbarkeit, Robustheit gegen Benutzungsfehler, sowie Benutzerbindung.

Laut IEC 62366-1 fallen im Rahmen der Erstellung einer Usability-Akte die Durchführung bzw. Erstellung einer Benutzungsspezifikation, einer gebrauchsbezogene Risikoanalyse, einer User Interface-Spezifikation und ihrer Verifizierung, eine formative Evaluation und eine abschließende summative Evaluation an.

Die Benutzungsspezifikation enthält die grundlegenden Informationen zur Nutzung und zum Nutzungskontext. Dazu zählen die medizinische Indikation (Zweckbestimmung), die vorgesehene Patientengruppe, die Benutzer-Profile (Benutzergruppen und deren typische Arbeitsaufgaben), die Nutzungsumgebung und das Funktionsprinzip.

Die gebrauchsbezogene Risikoanalyse analysiert die Aufgaben der Nutzer im Kontext mit dem Gerät und identifiziert daraus Benutzungsfehler (Benutzungsszenarien/Use Scenarios). Diese Fehler verursachen Gefährdungen, Gefährdungssituationen und Risiken. Es werden mögliche Schäden und deren Schweregrad ermittelt, sowie gefährdungsbezogene Benutzungsszenarien für die später folgende summative Evaluation ausgewählt.

Anschließend folgt die User Interface Spezifikation. Sie beinhaltet im Wesentlichen prüfbare technische Anforderungen des User Interfaces, Gestaltungsregeln, sowie Anforderungen bzgl. der Teile des UI, die in der gebrauchsbezogenen Risikoanalyse identifiziert wurden. In der zugehörigen Verifikation wird vom Usability Engineer überprüft, ob die spezifizierten Anforderungen auch umgesetzt wurden.

Die formative Evaluation stellt eine entwicklungsbegleitende Bewertung dar. Beispielsweise in Form eines „Cognitive Walk-through“ werden Benutzungsprobleme und -fehler identifiziert und Unzulänglichkeiten und Stärken am User Interface identifiziert.

Die summative Evaluation ist die abschließende Bewertung der Gebrauchstauglichkeit und dient als Beweis, dass die Benutzerschnittstelle sicher benutzt werden kann. Sie findet mit repräsentativen Nutzern in einer repräsentative Nutzungsumgebung statt.

Wie passt das nun zusammen?

Kommen wir jetzt zur Integration der beiden Disziplinen. Wie vorher schon beschrieben werden im V-Modell links die Anforderungen und Spezifikationen aufgelistet und im rechten Zweig die passenden Tests und Validierungen. Vor der Definition der PEMS System Anforderungen arbeiten die Requirement Engineers an den Stakeholder-Anforderungen und die Usability Engineers an einer Systemspezifikation aus Black-Box-Sicht.

In der Phase der Erarbeitung der Stakeholder-Anforderungen (auf Systems Engineering Ebene) sollten gleichzeitig Befragungen mit möglichen Nutzern durchgeführt werden, um daraus Nutzungsanforderungen ableiten zu können. Die Fragen beziehen sich dabei auf die Aufgaben der Nutzer, ihre Arbeitsergebnisse inkl. deren Güte, mögliche Fehlerquellen in der Aufgabenbearbeitung und die einzelnen Teilschritte der Aufgaben. Ziel ist es in diesem Stadium Nutzungsanforderungen abzuleiten und Kernaufgaben des Produktes zu identifizieren, um sie in den Stakeholder-Anforderungen festhalten zu können. Jede Teilaufgabe wird in einer Nutzungsanforderung festgehalten. Das Produkt kann so passgenau auf den Endnutzer abgestimmt werden.

Während der PEMS Spezifikation sollten im Rahmen der gebrauchsbezogenen Risikoanalyse Kernaufgaben beschrieben werden und Benutzungsszenarien entworfen werden. Dazu werden unter anderem Aufgaben, die mit dem Gerät ausgeführt werden sollen, analysiert, um Benutzungsfehler zu identifizieren. Durch das Kennen der Benutzungsszenarien kann eine Abfolge von Aktionen des Benutzers am Gerät spezifiziert werden (Abstraktionsebene „eingeben“, „auswählen“) und die darauffolgende Reaktion der Benutzerschnittstelle (z.B. „anzeigen“, „signalisieren“). Häufig leiten sich daraus dann neue Nutzungs- und Systemanforderungen ab, die vorher noch nicht bedacht wurden. Im nächsten Schritt können aber auch Nutzungsanforderungen, die durch „Erkennen“ oder „Überblicken“ beschrieben werden in Nutzungsobjekte überführt werden und solche die „Auswählen“ oder „Einstellen“ enthalten in Werkzeuge überführt werden. Daraus kann dann schlussendlich die Bedienfunktion und die Benutzungsschnittstelle gänzlich spezifiziert (User Interface Spezifikation & Verifizierung) werden in der Auswahl der Bedienelemente, einer Navigationsstruktur, Positionierung von Steuerelementen und Gestaltung von (Fehler-)Meldungen. Es wird nun ein erster Prototyp entworfen für den eine Zwischenbewertung (erste formative Evaluation) stattfindet, um im weiteren Entwicklungsprozess zu gewährleisten, dass das Gerät auch auf die Erfüllung der wichtigen Aufgaben abgestimmt ist.

Im Rahmen der Implementierung wird auch die Benutzungsschnittstelle entwickelt.

Während der Komponententests und während des PESS Systemtests können die Benutzerschnittstelle und ihre Einzelteile immer wieder einer formativen Evaluation unterzogen werden, um die Schnittstelle weiter zu verbessern. Dabei können auch repräsentative Nutzer eingesetzt werden. Mit stattfinden des PEMS Systemtests sollte dann die Gebrauchstauglichkeit abschließend verifiziert werden und die formative Evaluation damit abgeschlossen werden.

In der Phase der PEMS Validierung wird die Gebrauchstauglichkeit in Form der summativen Evaluation abschließend validiert werden.

Wie man sieht, gehen Systems Engineering und Usability Engineering Hand in Hand. Und letztendlich ist eine gute Usability ein wesentlicher Bestandteil für den Produkterfolg.

Viele Grüße,

Katharina Rostan

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